Scholz‘ „Zeitenwende“ und die Prager „Grundsatzrede“: Frieden Schaffen mit deutschen Waffen?

„Für mich ist klar: Die Ukraine verteidigt auch unsere Freiheit, unsere Friedensordnung und wir unterstützen sie finanziell und militärisch – und zwar solange es nötig ist. Punkt.“ (Annalena Baerbock, deutsche Außenministerin, Interview mit der Bild 28.8.2022)

Ein Meinungsbeitrag von Sven Brajer

Gedanken zum 1. September. Vor 83 Jahren begann der 2. Weltkrieg. Am Ende sollten diesen u. a. über sechs Millionen Deutsche und 27 Millionen Sowjetbürger mit dem Leben bezahlen. Mein vor einigen Jahren verstorbener Vater (Jahrgang 1932) erzählte mir als Kind wie das damals war, als „die Russen“ am 8./9. Mai 1945 in der ostsächsischen Provinz einmarschierten: ambivalent. Einerseits war die Bevölkerung froh, dass der Krieg nun zu Ende war, andererseits beäugte diese skeptisch die über die Hauptstraße in Neugersdorf marschierenden Rotarmisten, die zum Teil „exotisch“ aussahen, da sie aus Zentralasien stammten. Als einer der „Iwans“ meinem schon damals musikbegeisterten Vater sein Hohner-Akkordeon wegnahm und der damals 13-Jährige darauf den Tränen nahe war, meinte der Soldat: „Ich nehme Dir nur Dein Instrument, deine Leute [die Deutschen] aber haben mir meine Familie genommen.“

Eines war für meinen Vater – der sich Zeit seines Lebens nie für eine politische Partei engagierte – bis an sein Lebensende (2019) klar: „Von deutschem Boden darf nie wieder ein Krieg ausgehen!“

Die Bundesregierung als transatlantischer Erfüllungsgehilfe

Schaut man sich die einhergehende oder aber die heutige Aussage von Frau Baerbock an, kann man nur noch mit dem Kopf schütteln:

„Wenn ich den Menschen in der Ukraine das Versprechen gebe: ‚Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht´, dann werde ich diese Versprechen einhalten. Egal, was meine deutschen Wähler denken. Aber ich werde die Menschen in der Ukraine wie versprochen unterstützen“

Das korrupteste Land Europas soll nun bis zum letzten Ukrainer mit deutschen Waffen verteidigt werden – koste es den deutschen Verbraucher und Steuerzahler, was es wolle! Noch im Februar 2021 titelte die Süddeutsche Zeitung untermalt mit einem Foto von Wolodymyr Selenskyj: „Ukraine. Korrupt wie eh und je“. Fast auf den Tag ein Jahr später – und vier Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine schrieb die gleiche Zeitung über den Mann in Kiew: „Heldenfigur. Was Selenskij lehrt“ und bauschte ihn zu nichts weniger als der „moralischen Instanz für die Welt“ auf – Hut ab für diese mediale Wendung um 180 Grad! Einen Tag vorher, am 27. Februar hielt Olaf Scholz seine vor Hypermoral triefende, historische Rede in Berlin. Bedeutungsschwanger konstatierte er eingangs:

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen.“

Ähnlich hochtrabende Worte kannte man bereits von Scholz Vorgängerin aller paar Jahre. Sie verstand es zumindest einen Deut besser, ihre vermeintlich „alternativlose“ Politik – und die stets damit einhergehenden desaströsen wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die von ihr regierte Bevölkerung –  als Reaktion auf  externe globalen Krisen (Atomausstieg 2011, Flüchtlingskrise 2015, „Corona-Krise“ 2020) zu verkaufen. Die vom Bundeskanzler heraufbeschworene „Zeitenwende“ stellt nichts anderes dar, als einen Rückschritt in längst vergangene Zeiten, in das 20. Jahrhundert, in deren erster Hälfte mit Aufrüstung und Kriegen Konflikte „gelöst“ wurden und in deren zweiter Hälfte ein Eiserner Vorhang durch Europa und die Welt ging. Dieser wird nun wieder durch fanatische Transatlantiker und propagandistisch begleitet durch vom Steuerzahler gesponserte Thinktanks wieder hochgezogen. Völlig geschichtsvergessen und dennoch in „guter“, deutscher Tradition schießen sich dabei die Generation der Babyboomer, sowie die Alterskohorten „X“ und „Z“ auf das historische Feindbild Russland ein. Wieder gilt es, so Scholz weiter, für die „westlichen Werte“ zu streiten:

„In Kiew, Charkiw, Odessa und Mariupol verteidigen die Menschen nicht nur ihre Heimat. Sie kämpfen für Freiheit und ihre Demokratie. Für Werte, die wir mit ihnen teilen. Als Demokratinnen und Demokraten, als Europäerinnen und Europäer stehen wir an ihrer Seite – auf der richtigen Seite der Geschichte. […] Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber: Der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen.“

Provokant kann an dieser Stelle gefragt werden, was uns eigentlich die Ukraine als nicht EU- und nicht Nato-Staat angeht und was transatlantische Globalisten überhaupt mit dem Begriff „Heimat“ verbinden?  Auch die Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine, vom durch die USA finanzierten „Euro-Maidan“ bis zum blutigen Bürgerkrieg im Donbass, findet weder in deutschen Medien noch bei Politikern der Ampel Erwähnung – nicht zuletzt aus Unwissen? Und welche Freiheit meint Scholz, die in nie gekanntem Ausmaß in den letzten zweieinhalb Jahren beschnitten wurde und deren Umfang genau wie der politische Radius der meisten Parteien immer kleiner wird? Welche Sanktionen hat die Bundesregierung eigentlich gegen jene Aggressoren verhängt, die Serbien 1999 unter einen Bombenteppich begruben, Afghanistan und den Irak ab 2001 bzw. 2003 in Schutt und Asche legten und Libyen ab 2011 zum Failed State machten und dies in Syrien bis heute versuchen? Doch gegenüber den USA gelten ganz andere Maßstäbe als gegenüber Russland. So wurde die „Bereitschaft, eine dienende Führungsrolle auszuüben“, die Wirtschaftsminister Robert Habeck Anfang März in den USA bekannt gab, in Washington „erfreut zur Kenntnis genommen.“ Nicht zuletzt dadurch hat sich Bundesregierung als „getreuer Vasall der USA“, wie Ex-Linken Chef Oskar Lafontaine schlussfolgerte, erwiesen. Die komplette und verheerende Außenpolitik Berlins lässt sich vor diesem Hintergrund simpel „nachvollziehen“.

An der Eskalationsspirale wird immer weitergedreht: Sanktionen, Wirtschaftskrise und bedenkliche Aufrüstung

Die von Scholz angekündigte „Katastrophe“ für Russland hält sich bislang in Grenzen: So Stand der Rubel im Sommer auf einen Sieben-Jahre-Hoch im Vergleich zum Euro, während dieser seit Jahren seine vollziehende Talfahrt gegenüber  dem US-Dollar, Schweizer Franken oder dem chinesischen Yuan bedrohlich fortsetzt – zum Leidwesen der hiesigen Verbraucher mitsamt Rekordinflation in der Eurozone. Während russische Konzerne wie Gazprom – deren westliche Aktienbesitzer Ende Februar über Nacht von ihren Regierungen enteignet wurden – Rekordgewinne einfahren, steht die deutsche Wirtschaft vor einem durch desaströse Politik selbstverschuldeten Abgrund wie zuletzt 1945. Obwohl all das Ende Februar mit etwas Weitsicht abzusehen war, wurde damals über neue Schulden in Höhe von 100 Milliarden Euro gemacht, als „Sondervermögen“ deklariert und u.a. in die Rachen deutscher und ausländischer Rüstungsunternehmen gesteckt. Dass neben den Waffenlieferungen in die Ukraine – hier stellt sich nebenbei die Frage, in welche Hände diese Waffen konkret gelangen und was damit nach dem Krieg passiert – nun auch ukrainische Soldaten von der Bundeswehr ausgebildet werden, verschärft die Lage weiterhin. In diesem Kontext betont der Journalist Tobias Riegel, dass „die Ausbildung von Ukrainern an diesen deutschen Waffen völkerrechtlich nochmal eine andere, gefährlichere Qualität haben kann“ und verweist dabei sogar auf eine kritische Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags aus dem März.

In seiner „Grundsatzrede“ in Prag Ende August, untermauerte Scholz noch einmal die bedingungslose Unterstützung der Ukraine und zwar „wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär und auch militärisch – und vor allem: so lange wie nötig“. Daneben wurde noch weiter Richtung Osten gezündelt, indem Scholz für die Aufnahme von sechs Westbalkanstaaten, darunter dem Kosovo und weiteren Wirtschaftsgiganten wie der Ukraine, Moldawien und sogar („perspektivisch“) auch Georgien in die EU eintritt. Daneben gelte es weiter aufzurüsten, also die „sicherheits- und verteidigungspolitischen Strukturen Europas zu stärken“ und eine „schnelle Engreiftruppe bis 2025“ mit voll ausgestattetem „EU-Hauptquartier“ aus dem Boden zu stampfen. Von einen darüber hinaus installierten „gemeinsam aufgebauten Luftverteidigungssystem in Europa“ verspricht sich der SPD-Politiker einen „Sicherheitsgewinn“.

Keinerlei Geschichtsbewusstsein

Diese ökonomischen, wie militärischen Abenteuer sind nur in eine Richtung zu interpretieren, wie der Junge Welt-Chef Arno Schölzel konstatiert:

„Der neue kalte Krieg, den der kollektive Westen seit mehr als 15 Jahren gegen Russland und China führt, hat bisher nicht den erwünschten Effekt: Innerhalb der EU scheren immer wieder selbst nach der angeblichen »Zeitenwende« einzelne Mitglieder aus. […] Die Rede von Prag ist ein »Vorwärts«-Befehl, der nur eine Richtung kennt: Konfrontation mit Russland und China und Herstellung sogenannter Geschlossenheit im EU-Innern. […]“.

Es kann aber nicht der Sinn und Zweck einer deutschen Regierung sein, sich zum außenpolitischen Handlanger von US-Interessen zu machen, dabei keine Kosten auf den Rücken der Bürger zu scheuen, umsehenden Auges in einen Dritten Weltkrieg zu rennen und dabei die Existenz des eigenen Volkes und der eigenen Wirtschaft durch nie gekannte hohe Energiekosten zu gefährden. Der Bundesregierung und insbesondere Olaf Scholz sei daher Folgendes mit Bezug auf die von ihm formulierte „Zeitenwende“ ins Stammbuch geschrieben:

Auf der „richtigen Seite der Geschichte“ wähnten sich schon viele vermeintlich große Männer, besonders jene die sich mit Russland anlegten die Herren Napoleon und Hitler lassen grüßen, Herr Scholz! Vielleicht finden sie auch noch den ein oder anderen Zeitzeugen, der Stalingrad oder die Bombardierung von Dresden überlebt hat – derartige Begegnungen scheinen dringend notwendig!

(Titelbild Pixabay: Tobias Rehbein)