Besserwessi und Jammerossi – noch immer keine Freunde? (Buchauszug)

35 Jahre sind (2024) ins Land gegangen, als in Berlin die Mauer fiel. Mit dem Abriss des „antifaschistischen Schutzwalls“ trafen zwei deutsche Gesellschaften aufeinander, die vier Jahrzehnte voneinander getrennt waren: Eine vom transatlantischen „Wirtschaftswunder“ kulturell und politisch von den USA und Westeuropa geprägte Wohlstandsgesellschaft auf der einen Seite – auf der anderen eine sowjetisierte, „realsozialistische“ Mangelwirtschaft.

Bis heute haben beide Landesteile nicht zusammengefunden: Konnte man in den 2000er und beginnenden 2010er Jahren den Eindruck gewinnen, als ob die lange Teilung einigermaßen überwunden sei – so haben die globalen Einschnitte der letzten Jahre ein anderes Bild vermittelt: Ob Flüchtlingskrise (ab 2015), Corona-Krise (ab 2020) oder die von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 beschworene „Zeitenwende“[1], die Milliarden von Steuergeldern als „Sondervermögen“ deklariert und in die Bundeswehr und Waffenlieferungen in die Ukraine pumpt(e): Beim Umgang mit derartigen Zäsuren ticken Ost- und Westdeutsche – vor allem die vor 1990 Geborenen deutlich anders genau wie in der Auseinandersetzung mit der politisch-medial omnipräsenten „Klima-“ sowie der Genderthematik. Das zeigt sich nicht zuletzt im Wahlverhalten: Während im Westen CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP weiterhin recht hoch im Kurs stehen – wählt der Osten AfD bzw. eine dieser hinterherlaufenden CDU oder zeigt große Begeisterung für die neue Partei um Sahra Wagenknecht – welche die alte Linke auf das Abstellgleis der Geschichte verbannen wird.[2] Ein weiter Teil steht dagegen komplett mit der bundesdeutschen „repräsentativen Demokratie“ auf Kriegsfuß – und bleibt am Wahltag gleich ganz zuhause.[3]

Im Osten lassen sich dagegen immer noch viele Menschen ein X für ein U vormachen (oftmals die, die vor 1989 auch schon alles geglaubt haben), es wird weniger über das eigene Ego geprahlt, man stellt sich lieber selbst in den Schatten und wenn gejammert wird, dann doch lieber hinter dem Rücken der zu Kritisierenden – aber nicht etwa konstruktiv und von Angesicht zu Angesicht.

Bis heute scheint die jahrzehntelange Frontstellung auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze im Kalten Krieg nicht befriedet zu sein – im Westen ist die Vasallentreue gegenüber der im Niedergang befindlichen Weltmacht USA – und seiner westeuropäischen Anhängsel nicht zuletzt aufgrund einer gigantischen Propagandamaschine und zahlreicher Lobbyisten größer denn je, rechts der Elbe schaut man eher nach Mittel-, Ost- und Südosteuropa – auf ehemals sozialistische und zuletzt immer stärker nationalistisch auftretende Staaten. Ob Polen, Ungarn, oder die Slowakei, versucht wird einen eigenen, wenn auch sehr unterschiedlichen Weg zu gehen. Vor allem der eurasisch-imperiale Gegenspieler der USA steht besonders hoch im Kurs: Russland – welches zusammen mit den anderen BRICS-Staaten – allen voran China – an einer neuen, multipolaren Weltordnung bastelt, die vom alten „Wertewesten“ (noch) arrogant ignoriert wird.[4]

Der größte Unterschied zwischen den beiden so ungleichen Landesteilen der Bundesrepublik ist aber das Wohlstandsgefälle: So verdienen Ostdeutsche Anno 2022 mehr als tausend Euro weniger im Monat als Westdeutsche.[5] Während am Rhein und Isar durchschnittlich  niedrige sechsstellige Beträge vererbt werden, sind es im ehemaligen Mitteldeutschland wenn überhaupt geringe fünfstellige. Bis heute hat man diesen materiellen Aspekt – das zeigt sich vor allem bei westdeutschen Juristen, Professoren oder staatsnahen Wirtschaftsakteuren[6], die oftmals kulturalistisch – aber eben nicht materialistisch argumentieren, da sie ihr Leben lang vom Staat und/oder den Eltern alimentiert werden bzw. wurden und wirtschaftliche Nöte nicht kennen, belächelt. Die soziale Fallhöhe ist im Osten viel größer, das Wüten der Treuhand zu Beginn der 1990er Jahre als neoliberale Schocktheraphie[7] gilt vielen als Trauma, genau wie die Ablösung der D-Mark durch den Euro und die Öffnung der Grenzen 2015 durch Angela Merkel nach dem „alternativlosen“ Motto: Friss oder stirb (lieber Untertan). Die durch die Nachkriegsgeneration geschaffene (transatlantische) Speckschicht ist im Westen (noch) viel größer, die von Berlin (und früher von Bonn) verordnete Toleranz trägt hier (noch) die Gesellschaft. Ostdeutsche spielen dagegen sowohl in der gesamtdeutschen wie der ostdeutschen Perspektive auf Schlüsselpositionen in Politik, Wirtschaft, Medien oder Kultur bis heute kaum eine Rolle und sind deutlich unterrepräsentiert. Die Abwertung ostdeutscher Lebensleistungen flackert hin und wieder auch ganz direkt auf, so sind für Springer-Chef Matthias Döpfner alle „Ossis Kommunisten oder Nazis“[8], und für westdeutsche Corona-Maßnahmen-Hardliner wie Nikolas Blome macht der Osten sogar gleich „das ganze Land braun“ – ja, er „bringt uns den Faschismus“[9]. Bitte schön – möchte man da fast rufen und auf die Herkunft von Holger Apfel, Björn Höcke oder Götz Kubitschek verweisen.

Dieses Buch will eine Momentaufnahme sein, aber auch zurückblicken auf die letzten Jahre einer Bundesrepublik, die sich innerhalb kürzester Zeit vom Exportweltmeister zu einer irrationalen Lachnummer entwickelt hat und ihre besten Zeiten hinter sich zu haben scheint. Der Ost-West-Gegensatz wurde nie ganz aufgearbeitet, Vorurteile und Klischees werden zum Teil in die nächste Generation vererbt. Während im Westen ein hypermoralisches Lehrmeistertum gegenüber der eigenen Bevölkerung, aber auch anderen Staaten und Ethnien – jegliche Rationalität ersetzt hat und in seinem totalitären Anspruch an finsterste deutsche Zeiten erinnert, kochen viele Ossis – vor allem jenseits der Großstädte – vermeintlich unintegriert[10] lieber ihr ganz eigenes Süppchen, obwohl man die positiven Seiten der Globalisierung auch dort stets gerne und selbstverständlich mitnimmt. Vielleicht braucht es aber schlichtweg noch eine Generation – bis der Osten dem Westen mental angeglichen ist, wirtschaftlich wird er wohl immer bundesdeutsche Peripherie bleiben. Zu hoffen ist beides nicht, auch wenn die aktuelle Lage das zu bestätigen scheint.

Das Buch „Besserwessi und Jammerossi – noch immer keine Freunde?“ von Sven Brajer erscheint im Herbst 2024.


[1] Sven Brajer: Scholz‘ „Zeitenwende“ und die Prager „Grundsatzrede“: Frieden Schaffen mit deutschen Waffen?, Im Osten. Perspektiven wider den Zeitgeist., 1.9.2022, https://imosten.org/2022/09/01/scholz-zeitenwende-und-die-prager-grundsatzrede-frieden-schaffen-mit-deutschen-waffen/ (2.10.2023).

[2] Sven Brajer: Die (Selbst)Zerstörung der deutschen Linken. Von der Kapitalismuskritik zum woken Establishment. Wien 2023.

[3] Umfrage: AfD ist in Ostdeutschland deutliche die stärkste Kraft, Wirtschaftswoche, 7.6.2023, https://www.wiwo.de/politik/deutschland/umfrage-afd-ist-in-ostdeutschland-deutlich-die-staerkste-kraft/29192692.html (2.10.2023).

[4] Freunde der Freiheit und Selbstbestimmung sollten sich allerdings keine allzu großen Hoffnungen mit Blick auf die BRICS-Staaten machen – Tom-Oliver Regenauer: Der Brics-Bluff, Manova, 23.9.2023, https://www.manova.news/artikel/der-brics-bluff (2.10.2023).

[5] Gehaltsunterschiede: Lohngefälle wird immer größer: Warum Ostdeutsche im Schnitt 13.000 Euro weniger verdienen als Westdeutsche, Stern, 18.7.2023, https://www.stern.de/gesellschaft/lohnunterschiede–ostdeutsche-verdienen-13-000-euro-weniger-als-westdeutsche-33660446.html (2.10.2023).

[6] Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist sicher das prominenteste Beispiel wie man stets den Zeitgeist verhaftet sein und dazu in seiner eigentlichen Profession – der Nationalökonomie – mit Aussagen und Prognosen daneben liegen kann – natürlich stets ohne persönliche Konsequenzen. Georg Meck: Marcel Fratzscher. Irrungen und Wirrungen eines Star-Ökonomen, FAZ, 5.11.2020, https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/mehr-wirtschaft/irrungen-und-wirrungen-des-star-oekonomen-marcel-fratzscher-17030101.html (2.10.2023).

[7] Naomi Klein: Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2007.

[8] Sven Brajer: Noch immer „Kommunisten oder Faschisten“? – Der Osten wirbelt die deutsche Parteienlandschaft auf, Im Osten. Perspektiven wieder den Zeitgeist, 28.7.2023, https://imosten.org/2023/07/28/noch-immer-kommunisten-oder-faschisten-der-osten-wirbelt-die-deutsche-parteienlandschaft-auf/ (2.10.2023).

[9] Augstein & Blome. (Podcast) „Der Osten macht das ganze Land braun“, 15.9.2023, https://art19.com/shows/augstein-und-blome/episodes/7b2e5319-db65-486d-a931-4cf1ce6d63c5 (2.10.2023).

[10] Petra Köpping: »Integriert doch erst mal uns!« – Eine Streitschrift für den Osten. Berlin 2018.