Der „Osten“ als „westdeutsche Erfindung“? – Dirk Oschmanns gnadenlose Abrechnung mit der Kolonialisierung der DDR und der anhaltenden Abwertung der Ostdeutschen

Abgewickelte Wirtschaft. Westprofessoren, Westjuristen, Westmedien oder westdeutsche Hausbesitzer. Enorme Gehaltsunterschiede zwischen „alten“ und „neuen“ Bundesländern. Generelles Kleinhalten der „Ossis“ – der Leipziger Germanist Dirk Oschmann bringt eine längst überfällige Debatte um fehlende Gleichberechtigung in die breite Öffentlichkeit – 33 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ wird es dafür höchste Zeit.

Eine Rezension von Sven Brajer

Oschmann und die „Ost-Identität“

Auf den ersten Blick passt Dirk Oschmann so gar nicht in die westdeutsche „Jammer-Ossi-Schublade“: Zwar geboren 1967 im thüringischen Gotha, begeisterte er sich als Jugendlicher für Wimbledon, Jimmy Hendrix und Franz Kafka. Von 1986 bis 1993 studierte er Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Jena und an der State University of New York in den USA. Er arbeitet als Germanistik-Professor an der Universität in Leipzig. In seinem im Ullstein-Verlag erschienen Buch im „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (ISBN: 9783550202346, 19,99 €) macht vor allem der Ton die Musik, denn „im Grunde sage ich […] nichts Neues“ (S.12) wie er gleich zu Beginn schreibt. Doch er trägt erstaunlich viele Fakten über den sich immer noch als Norm verstehenden Westen zusammen und das auf seine Art und Weise: „zorngesättigt und frei“ (S. 193). Das gefällt seinen westdeutschen Professorenkollegen, die nach wie vor die überwiegende Mehrzahl auf ostdeutschen Lehrstühlen bilden und Oschmann eine „Ost-Identität“ nach ihren Vorstellungen konstruieren, nicht. Dies beschäftigt den Thüringer sehr, denn Niemand will gerne der (vermeintlich) ideologische Buhmann in seiner Disziplin oder Gilde sein. Unverzagt konstatiert er dennoch seine wohl wichtigste These: „Der öffentliche Raum als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum ist nicht nur in westdeutscher Hand, sondern normalerweise auch vollständig von westdeutschen Perspektiven beherrscht.“ (S.30).

Medien, Grundgesetz, Nazis und (fehlendes) Kapital

Die Zeit, das Magazin Der Spiegel, die GEZ-Medien oder das „Satire“-Magazin Titanic bekommen ihr Fett (zurecht) weg. Deren permanenter Nazi-Keule gen Osten hält Oschmann den Spiegel vor, und entlarvt Wortungetüme aus der kaum entnazifizierten Bonner Republik wie „Aufbau Ost = Bezeichnung der wirtschaftspolitischen Anpassung der neuen Bundesländer an den Westen“ (S. 53) als Sprache des „Dritten Reiches“. Und obwohl nicht sein kann, was nicht sein darf, setzt Oschmann noch einen drauf und fordert eine neue, gemeinsame Verfassung (S. 52) wie sie im Grundgesetz nach der Wiedervereinigung auch vorgesehen ist:

„Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 146: Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

Doch weder die fehlende Entnazifizierung, noch die Abstimmung über eine neue Verfassung interessier(t)en in Bonn bzw. Berlin die westdeutschen Eliten, denn „während Westdeutsche offenbar Naturdeutsche sind, sind ostdeutsche lediglich Kunstdeutsche“ (S. 58) – obwohl Erstere 40 Jahre von Segnungen wie dem US-Marshallplan profitierten, während die Sowjetunion emsig Reparationen aus der „Ostzone“ forderte und Welt-Konzerne wie Siemens oder Audi 1949 in den Westen übersiedelten: „Geografie als Schicksal“ (S.49). Bis heute sind die Startbedingungen für Ostdeutsche gerade an Universitäten oder in der Justiz ungleich schwerer als für Westdeutsche, denn ihnen fehlen angelehnt an Bourdieu nach wie vor „die finanziellen Voraussetzungen, die Netzwerke, der Stallgeruch, die ‚Verwandtschaft im Habitus‘ […] mit einem Wort: ALLES, nämlich das kulturelle, symbolische und ökonomische Kapital, das obendrein nur als Westkapital existiert“ (S.68).

Sachsen als ostdeutsches Brennglas und die westdeutsche Doppelmoral

Am dunkelsten ist „Dunkeldeutschland“ (Joachim Gauck) in Sachsen, von Oschmann ironisch als „Osten des Ostens“ (S. 123) bezeichnet, denn dort „ist die diskursive Festlegung auf ehemalige DDR und generell Osten am stärksten“ (ebd.) – vor allem weil dort die universalistische Nazikeule am heftigsten geschwungen wird und Sächsisch nicht jedermanns Sache ist. Dresden wird seit Pegida laut Oschmann zum „Osten des Ostens des Ostens“ gemacht (S.125). Die Dresdner stört das freilich nicht: Bleibt mal lieber in Köln, Düsseldorf oder München, wenn es euch in der schönsten Stadt Deutschlands nicht gefällt, würden viele Elbflorenzer den westdeutschen „Kritikern“ zurufen. Auch hier sieht Oschmann wieder „Doppelmoral und Heuchelei“ am Werk und bringt zahlreiche westdeutsche rassistische Aussagen – wie vom ehemaligen Landeschef von Baden-Württemberg,  der es sich in Brüssel gemütlich gemacht hat,  Günther Oettinger bis hin zum ehemaligen Schalke-Boss Clemens Tönnies. Hätte ein gebürtiger Dresdner oder Erfurter oder Rostocker – „solches verlautbart, wäre das sein sozialer und politischer Tod gewesen. […] Doch im Westen soll der Fremdenhass Folklore sein, im Osten hingegen angeborener Teil der Mentalität“ (S.134).

Kunst, Sprache und der akademische Elfenbeinturm

Das zeigt Oschmann anschaulich im Kapitel „Kunst im Osten: ‚Alles Gesinnung‘“. Dort erörtert er ausführlich die Feder-Attacke des  westdeutschen Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich auf den ostdeutschen Künstler Neo Rauch im Jahr 2019 (S. 166 –  174) – auch bekannt als die „Anbräuner-Debatte“. Im letzten Kapitel „Sprechen und Sprecher: ‚Jammern‘“ kommt der Germanist Oschmann auf die Funktion von Sprache zurück: Seine eigene, die des „Jammer-Ossi’s“ (S. 178) und die der westdeutschen Öffentlichkeit. Er resümiert:

„Der Westen versucht zu definieren, was zu sagen ist. Und wenn das nicht funktioniert, weil es keine Argumente beispielsweise gegen nackte Fakten und Zahlen gibt, versucht er wenigstens zu bestimmen, wie etwas zu sagen ist. Deshalb wiederhole ich: Die Wirklichkeit ist das Skandalon, nicht mein Ton.“ (S.196)

Dem gibt es (fast) nichts mehr hinzuzufügen, doch ganz kann sich Oschmann nicht aus seinem akademisch-urbanen Elfenbeinturm befreien. So outet er sich als treuer Grünen-Wähler (S. 43), täglicher Spiegel Online -Leser (S. 39) und bringt ausgerechnet den mit österreichischen und westdeutschen Millionen hochgezogenen Retortenclub „RB Leipzig“ – in dessen gesamten Kader derzeit leidglich zwei chancenlose Spieler mit ostdeutschen Wurzeln stehen – als Aushängeschild „für das Selbstbewusstsein der Stadt [Leipzig], das Umland und doch auch den Osten“ an (S.150). Ebenso beim Thema „Corona“, „Klima“ und Ukraine-Krieg scheint Oschmann ganz auf Mainstream-Linie zu liegen – im Gegensatz zu vielen Ostdeutschen, die es gelernt haben zwischen den Zeilen zu lesen und nicht nur in schwarz oder weiß zu Denken. All das ändert jedoch nichts an Oschmanns großartigen Buch. Ob es die Öffentlichkeit nachhaltig beeinflussen und vor allem auch in der (westdeutschen) Politik auf Interesse stoßen wird, bleibt abzuwarten. Nicht erst seit der Ära Merkel werden in Bonn bzw. Berlin Probleme ausgesetzt, mit denen die staatstragenden Politiker keinen Blumentopf gewinnen können – und hofft auf „‘biologische Lösungen‘“ (S. 190). Schaut man sich die durch Smartphone, Netflix, Unterrichtsausfall und „Bologna“ „gestählten“ U30-Generation(en) in Ostdeutschland an, erkennt man zumindest hier tatsächlich immer weniger Unterschiede zu den entsprechenden westdeutschen Jahrgängen – eine fatale Entwicklung.

(Titelbild: Pixabay by Tama66)

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