
Was im Osten gelesen wird, bestimmen auch 32 Jahre nach der „Einheit“ zumeist Westdeutsche – die Kluft zwischen veröffentlichter Meinung und ostdeutschen Befindlichkeiten ist unübersehbar. Anstatt die Lebensrealität vor Ort im Blick zu haben, werden mit hoher Schlagzahl globalistische Agenden mit einseitigem transatlantischem Fokus durch das mediale Dorf getrieben.
Eine Analyse von Sven Brajer (Teil 1 finden Sie hier)
Die Krise des Westens
Die seit den 2010er Jahren verbale und heute reale Aufrüstung transatlantischer Erfüllungsgehilfen in fast allen ‚deutschen‘ Parteien wurde von den Friedrichs mit großer Sorge zur Kenntnis genommen: „Denn eines wird bei Beobachtung des aktuellen Weltgeschehens deutlich: Die Kriege des letzten Jahrhunderts und mit ihnen der Blutzoll, der Zivilisationsbruch auf allen Seiten, geraten mehr und mehr in Vergessenheit. Neue geostrategische Talente haben sich auf den Weg gemacht, mit den gleichen alten, imperial orientierten Machtmustern.“ Offensiv wendet sich der Fokus vom Westen gen Osten:
„Warum etwa haben wir 2001 die ausgestreckte Hand von Herrn Putin nicht ergriffen? Er sprach in unserem Haus und auf Deutsch, es war gut zu verstehen. Auch er dürfte sich nach seiner Rede an die Zeit vor 1989 erinnert gefühlt haben, dürfte ob der Reaktion unserer politischen Eliten gelangweilt gewesen sein. Die russische Aufrüstung der letzten zehn Jahre, die Krim und Donezk sind Folgen von etwas, nicht einfach vom Himmel gefallen. Reden wir darüber? Offen, ehrlich und mit Blick auf die Chancen für Russland und Europa, für Deutschland und Berlin?“
Bis heute wird nicht offen darüber geredet, das Gegenteil ist der Fall. Doch die moralische und soziale Krise des Westens ist verheerend. Im Artikel zum 3. Oktober 2022 „Contra Ostbeauftragter: Was wir brauchen, ist ein Westbeauftragter!“ schrieb Friedrich ebenfalls in der Berliner Zeitung:
„Wer unter westdeutschen, unter transatlantischen Werten aufwuchs, lebt in der „Ersten Welt“. Ihr gegeben war eine quasi-„natürliche“ Führungsrolle in der Welt, die sich mit dem Schutz der Werte von Freiheit und Demokratie verband. Andere, die nicht das Glück der richtigen Herkunft haben, sind aus dieser Perspektive entweder diktaturgeschädigt, Teil der „Dritten“ oder unfreien Welt. Aus dieser Sichtweise erlebte der Westen die Revolution im Osten vor 30 Jahren, und diese Spaltung der Welt ist bis heute spürbar in der Sonderbemühung um den Osten im eigenen Land, den es mental und wirtschaftlich noch immer zu entwickeln und auf Stand zu bringen gilt. Doch wie entwickelt sich der Westen?“
Cerstin Gammelin beschreibt diese innerwestliche Blase – die offenbar weder durch die Berichterstattung über die Corona-, Klima-, oder Ukraine-Krise nachhaltig erschüttert werden kann – was zuletzt auch die systemkonformen Wahlergebnisse in NRW oder Niedersachsen bestätigten, so: „Im Westen fühlten und fühlen sich viele bis heute gut informiert und zum Diskurs dazugehörig. Aber Ostdeutschland zu repräsentieren hätten sich die großen Zeitungen nie zur Aufgabe gemacht, sondern Debatten weiter exklusiv auf die gebildeten Mittel- und Oberschichtenmilieus im Westen zugeschnitten – und damit die Ost-West-Trennung verstetigt.“
Mediale und mentale Kolonialisierung
Das hat seine Gründe in den Jahren 1989/90, wie es überraschend TAZ-Redakteurin Anne Fromm 2021 formulierte: „Nach der Wende entstanden um die 100 neue Zeitungen, 30 aus Bürgerrechtskreisen. Überlebt hat kaum eine. Die Westverlage rissen sich zum Teil unter Umgehung der Treuhand und des Kartellrechts und mit wärmster Empfehlung von Kanzler Kohl die Ostzeitungen unter den Nagel. Sie besetzten die Chefredaktionen mit ihren Leuten.“
Wenig hat sich seitdem geändert – und der Riss zwischen der instinkthaften Wahrnehmung der Realität und der veröffentlichten Meinung wird im Osten immer größer. Die große Mehrheit der Journalisten – steht nach eigenen Angaben links der Mitte, besonders die Grünen dominieren den transatlantischen Haltungsjournalismus. Doch genau diese Partei und ihre offensichtliche Umwertung all ihrer Werte: Von der antiamerikanischen Friedens- zur transatlantischen Kriegstreiberpartei, von der Bürgerrechts- zur Verbotspartei, von der Anti-AKW zur AKW-Partei, von der Öko- zur Gentechnikpartei steht zwischen Ostsee und Erzgebirge auf verlorenen Posten, denn diese Wendehalsmentalität ist für viele rechts der Elbe ein No-Go – nicht zuletzt deswegen spielen Süddeutsche Zeitung, Zeit, Spiegel oder FAZ im Osten kaum eine Rolle: Die heute staatstragenden Propagandaschlachten dieser Blätter erinnern viele Ostdeutsche in ihrer Totalität und Hypermoral an die Zeit vor 1989 – denn auch dort gab es viele Zeitungen, aber nur wenig zulässige Meinungen.